von Exitus » Mo. 21.02.2005, 20:57
Tagebuch "eines" Mädchens
Ich habe meine Gefühle und Gedanken über den Tod niemanden anvertraut und doch fühle ich mich mitschuldig am Tod meines Bruders, dies aus den unterschiedlichsten Gründen und sei es nur der, dass ich selbst ungerechter Weise lebendig und gesund bin.
Ich habe solche Angst. Angst vor dem Schmerz, vor den vielen verwirrenden Gefühlen, vor Tränen. Angst vor einer Atmosphäre, die vielleicht so bedrohlich ist, dass man glaubt, sie nicht aushalten zu können, auch Angst, ganz alleine zu stehen, Angst vor den vielen fremden Menschen, vor der Begegnung mit der eigenen Trauer, der eigenen Angst.
Wütend bin ich auch über meine Hilflosigkeit, aber ich kann meine Gefühle von Schmerz und Wut nicht zeigen. Dafür lache ich laut, bin unruhig und manisch, manchmal ganz außer mich. Meine tiefsten Gefühle wehre ich ab und verkehre sie in ihr Gegenteil, weil sie weh tun und ängstigen.
Niemand sprach mit mir, ich sah nur diese verlogenen Augen, was erwarteten sie von mir, sollte ich etwa heulen, zusammenbrechen und wie eine Wahnsinnige schreien. Warum brach ich in Tränen aus als ich die Nachricht erfuhr, zeigte danach aber kein einziges Gefühl mehr. War es ein Schock, oder eine berechnete Reaktion. War ich mit 7 Jahren schon so ein kaltherziges, intrigantes A...loch wie heute?
Und die Worte der anderen: „Es tut mir leid“, was sollten die bewirken? Es ist ungefähr wie ein Messerstich, der zentral deinen Bauchnabel trifft und dann ganz langsam schräg dein Herz zerreißt bis es dir nach und nach die Zunge spaltet, nur nicht ganz so blutig. Worte sind Gelächter und Lügen.
Nur mein Bruder fand die richtigen Worte, wie: „Du bist nicht allein. Ich sehe und höre dich in deinem Leid, ich will dich begleiten. Du kannst bestimmen, wie und wann du mich brauchst“. Er begleitete mich nach seinem Tod noch eine Weile. Er war schon immer das einzig wichtige für mich. Doch irgendwann musste er gehen, er konnte nicht mehr bei mir bleiben. Ich schenkte ihm meine Liebe, alles Gefühl und mein Leben, in der Hoffnung ihn eines Tages wiederzusehen. Seitdem bin ich allein und sehne mir den Tod herbei, denn die zurückgelassene Angst entwickelte sich zu Panik und aus Trauer wurden Resignation und Hass.
... Eigentlich brauchte ich nicht viel, weder viele Worte noch Mitleid, sondern was ich brauchte, war ein Mensch, der einfach nur da war, damit das Gefühl der Einsamkeit nicht so stark hervorkam. Doch sie ignorierten mich, sie alle. Jeder hatte Angst etwas falsches zu sagen, also sagten sie gar nichts, ließen mich allein mit diesem Schmerz. Ich war in ihren Augen wohl wirklich glücklich und stark. Ich weiß nicht, ob ich die Umstände des 18.Januar 1993 realisiert habe. Ich weiß nur, ich wurde an diesem Tag in mein Loch gestoßen, Ohnmacht überkam mich und erst 5 Jahre später wachte ich wieder auf. Ich war nun schon so tief gefallen, dass es unmöglich war wieder nach oben zu kommen. Und ich falle weiter, habe den Boden noch lange nicht erreicht, komme ihm lediglich näher. Ich habe schon lange aufgehört zu schreien, hier unten hört mich eh´ keiner, ich falle einfach nur noch. Habe längst alle Kraft verloren und vergessen, warum ich falle. Hier unten spielt das Warum keine Rolle mehr. Ich habe nichts mehr, was einen Menschen ausmacht, also sterbe ich lieber ein wenig früher. Dann sehe ich sicher meinen Bruder wieder.
Es gab zu viele Tage in denen ich mir vorlog, dass ich dem irrationalem, dem scheinbar sinnlosem Tod eines jungen Menschen, nicht die Allmacht über mein Denken, Fühlen und Handeln gebe. Das Leben würde mein Leben bestimmen und nicht der Tod. Was für eine Lüge.
Wenn all meine Worte so leer sind wie diese, ist nichts besser als Schweigen. Und der Ruhe der Außenwelt steht eine hassende innere Welt entgegen, die die Mauer einzureißen versucht. Sie will schreien: Der Tod ist meine Mutter, er ist mein Vater, mein Held, er ist mein Leben. Alles, was ich wirklich gerne tue beinhaltet den Tod. Er bestimmt mein Leben seit *...* sich aufgehangen hat. Doch innen ist nicht außen. Unsagbares wird zum Schweigen.
Damals hatte niemand Verständnis für meine Trauer, keiner interessierte sich dafür, sie sind schuld, das ich innerlich so leer bin und mich zu einem Monster entwickelt habe, aber dennoch fragen sie mich immerzu, warum ich allen Menschen den Tod wünsche.
Ihr seht, Wahrheit bleibt etwas sehr persönliches.