von Exitus » So. 03.04.2005, 00:02
Tagebuch "eines" Mädchens
Ich kann nicht mehr...
Ich schaffe es nicht mit Gefühlen umzugehen... Sie machen mir Angst... Ich habe Angst die Kontrolle zu verlieren... Angst zu fallen...
Woher kommt das denn alles? Woher??
Ich habe im Moment das Gefühl vollkommen überrannt zu sein...
Tausend Stimmen die mich abwechselnd anschreien und dann auf mich einreden...
Ich kenne es nicht, dass man mir helfen will... Es hatte doch nie jemand was getan... Ich war immer für mich allein...
Ich weiß noch als ganz kleines Kind... Ich war nur ein paar Straßen von zu Hause entfernt... ich glaube das Ketcar oder so hatte ich dabei...
Ich hab innerlich nach meiner Mutter gerufen... Ich habe sie so sehr herbeigewünscht...
Einzig mein Bruder war immer für mich da... Er hat die Schule geschwänzt, wenn ich krank war... Hat mich vorgezogen, wenn er auch hätte mit Freunden unterwegs sein können... Er war es, der mich gefunden hatte, wenn ich von zu Hause weggelaufen bin... Er hat mich auf sein Fahrrad gesetzt und mich nach Hause geschoben...
Er hat mir die tollsten Horrorgeschichten erzählt... Hatte immer einen Witz auf Lager...
Er half mir bei meinen Hausaufgaben, wo er nur konnte...
Ja, ich habe ihn immer wieder geärgert, habe ihn bei meinen Eltern verpetzt, ging im unheimlich auf die Nerven, wenn er Freunde zu Besuch hatte...
Beim Essen haben wir uns teilweise immer unter Tisch getreten...
Und im Schwimmbad hat er mir einmal so sehr in den Magen geschlagen, dass ich kurze Zeit keine Luft mehr bekam... ...aber ich war selber Schuld...
Ich habe meinen ersten Böller mit ihm zusammen aus dem Fenster geworfen... Ich hatte das Teil in der Hand und er hatte meine Hand in seiner... Ich hatte Angst vor dem Ding... Wollte es am liebsten gleich rauswerfen, aber er hielt mich bis kurz vorm Schluss fest...
Er hat immer mit mir Spiele gespielt... Und er hat mir so vieles beigebracht...
Ich schlucke meinen Schmerz schon wieder runter...
Ich weiß, dass ich ihn raus lassen müsste... Aber er ist mein Heiligtum... Mein alleiniger Schmerz! ...Meine Erinnerung...
Ich möchte doch nur zu ihm...
Als ich von dem Unfall erfahren hatte, wollte ich es nicht glauben... Ich konnte es nicht glauben...
Schule... Erste Stunde Chemie... Ich war abwesend in Gedanken... Zweite und Dritte Stunde Textiles Gestalten... Man sprach mich an, was ich hätte... Ich sagte, dass mein Bruder einen Unfall hatte... Eine Freundin nahm mich in den Arm.... ...es war so ziemlich das letzte Mal, dass ich ‚Nähe’ so akzeptieren konnte... ...dann schickten sie mich nach Hause... Sie schickten mich einfach nach Hause... Zu Hause entdeckte ich die Plastiktüte auf der Terrasse... Ich rieche noch immer den Geruch von den zerschnittenden, nassen und blutigen Klamotten... Ich nahm sie raus und als ich meine Eltern an der Tür hörte, packte ich die Sachen so schnell es ging wieder ein... *Schock* ...
Ich weiss nicht mehr, was am Tage geschah... Es waren irgendwelche Leute da... Sie redeten mit meinen Eltern und keine Ahnung... Ich saß nur auf dem Sessel mit meinem Kaninchen und weinte... oder blickte leer in den Raum...
Abends im Bett, betete ich für meinen Bruder... Ich sprach meinen Spruch für ihn... Ich habe diesen verdammten Gott angefleht... Ich wollte sonst was für ihn aufnehmen... Ich hätte alles getan...
Am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter um 6 Uhr... Vor einer halben Stunde war er gestorben... Tot... TOT.......
Wir fuhren ins Krankenhaus... Erst nach oben... Man redete... Der Arzt... Die Krankenschwestern... Dann ging es in den Keller... Es war kalt da... Der Arzt sagte, es sei besser wenn ich da nicht mit rein kommen würde... Aber es stehe mir frei... Super, als er lebte, verbot man mir noch ihn zu sehen und als Leiche hätte ich ihn sehen dürfen??
Ich blieb auf dem Flur... Alleine... Ich wollte es so...
Die Tage bis zu seiner Beerdigung... Ja, es kamen Leute... Ich wollte sie nicht da haben... Ich wollte alleine sein... ...aber meine Eltern brauchten jemanden zum Reden... Sie redeten... Ich kapitulierte...
Als ich am Tage nach seinem Tode zum Reiten geschickt wurde („Ablenkung tut dir jetzt gut!“)... ...ja, meine Freundin mit der ich dort hin fuhr wusste davon... Sie schenkte mir einen Teddy... Der Teddy, den ich jetzt noch immer in meinem Bett habe... (Gott, wie kindisch eigentlich... ) ...
...doch beim Stall schluckte ich einfach ein paar Mal und lief ganz normal rum... Nein, ich wollte nicht reiten... Niemand fragte weiter... Ich versteckte mich in der Box und weinte nur... ...jedes Mal, wenn ich jemanden hörte war ich still...
Scheiße, noch Jahre später wusste niemand dort, was passiert war...
Ich sprach nicht darüber... Man fragte nicht....
In der Schule hat man mich gemieden... Sie konnten nicht damit umgehen, dass ich nur nichts mehr sagte. Das ich nicht fröhlich durch die Gegend hüpfte...
Es wusste ja auch keiner, was mit mir los war... Und mal ehrlich... Kinder... Ich habe mich ja selbst gemieden...
Beerdigung... Es waren Menschen da... Der Pastor hielt seine Rede und es wurde irgendein Gospelkram auf einer Gitarre gespielt...
Ich ging direkt hinter dem Sarg... meine Eltern zusammen hinter mir... Ich war immer zwischen meinen Eltern und meinem Bruder... Ich fühlte mich im Weg und ja, ich war tierisch neidisch auf meinen Bruder... Ich bewunderte ihn, wollte so sein wie er... ...will es immer noch...
Ich mochte die Leute nicht... Es waren mir zu viele Menschen da... Es war ein heuchlerischer Schein...
Man übersah mich... Meinen Eltern sprach man das Beileid aus... Mir wurde ein müdes Lächeln zugeworfen...
Ich sah zwei Freundinnen mit dem Fahrrad am Friedhof vorbeifahren... Ja, es wäre heute Konfermationsunterricht gewesen... ...ich war nicht da... Man redete dort über mich und den Tod meines Bruders – wie ich später erfuhr... Wieso redete man nicht darüber, wenn ich in der Nähe war?
Dort wo das komische Essen nach der Beerdigung war... Wieso mussten wir ausgerechnet dort feiern? Und wieso wählte ich mir den einzigen Platz aus, wo ich man die Unfallstelle sah?
Zu Hause übernahm ich bald die Rolle meines Bruders mit... Ich versuchte ihn zu ersetzen... Ich habe meine Eltern aufgebaut! Ich habe meine ganze Kraft in sie investiert...
Ich habe immer alles in mich hineingefressen... Ich habe mich selbst zum Einzelgänger gemacht...
Und nach außen spielte ich bald wieder das fröhliche, liebe Mädchen...
Ja, es war besser so... So war ich äußerlich jedenfalls nicht ganz alleine, ersparte mir das Gerede hinter meinem Rücken...
Während eines Konfermationsunterrichts kurz nach seinem Tode, hat man mich vor die Tür geschickt, weil ich nur Mist gemacht hatte...
Ich fühlte mich einfach nur dreckig... Am Ende der Stunde wollte der Pastor mit mir reden... Ich wollte nicht...
Ich zittere am ganzen Leibe...
Ja, eigentlich wollte ich ganz andere Dinge schreiben...
Ich produziere all meine Probleme auf den Verlust meines Bruders...
Ich gebe dem Ereignis einen so hohen Stellenwert... Ich halte es fest und umklammere es... Ich will es nicht verlieren! Ich will es nicht wahr haben...
Ich habe Angst mich auf etwas einzulassen, weil ich mich vor dem Verlust fürchte...
Ich habe Angst, nur meinen Bruder in der Person zu suchen – und ich habe Angst vor der Erkenntnis, dass es nicht mein Bruder ist...
Ich fürchte mich diese Person zu verletzen, weil ich es schon immer tat...
Beziehungsunfähig?
Ich fühle mich nicht dazu in der Lage und doch wünsche ich mir nichts anderes...
Es fällt mir so schwer damit umzugehen, dass man versucht mir zu helfen... Ich kenne es nicht... Ich verstehe es nicht...
Ich denke immer, dass andere die Hilfe viel dringender brauchen und ich glaube, dass viele die Hilfe suchen und sie dann nicht wie ich versuchen zu hintergehen... Der Hilfe auszuweichen...
FLUCHT vor dem GLÜCK...........
Eigentlich könnte ich glücklich sein... Ich könnte leben, wenn ich die Vergangenheit loslassen würde... Aber ich verweigere mein inneres Glück...
Es tut mir leid, dass ich nur so viel Zeug schreibe, was einen runter zieht... Versuche mich zu bessern...