Hallo Ihr Lieben,
eigentlich habe ich jetzt schon Angst, hier überhaupt zu schreiben. Da ich aber auch nach fast drei Jahren immer noch nicht über dieses Thema sprechen kann, dachte ich, dass es vielleicht leichter ist, es jemandem zu schreiben.
Ich kann weder mit meinem Mann, meiner Schwester oder meiner Therapeutin über den Suizid meines kleinen Bruders reden. Zu sehr schmerzt es. Ich merke, wie sich jetzt eine Unruhe in meiner Brust ausbreitet, wie schwer das Schlucken wird, wie der Magen aufbegehrt. Aber ich atme durch und schreibe es auf.
Mein Bruder und ich, lange Zeit gab es nur uns. Unser Vater widmete sich lieber dem Alkohol, er beleidigte uns und gab uns die Schuld für seiner Trinkerei. Manchmal verschwand er tagelang, rief früh morgens an, ich solle ihn bei seinem Arbeitgeber krankmelden. Seinen Frust ließ er an uns aus. Als meine Mutter ging und unsere ältere Schwester mitnahm, war ich 6 und mein Bruder drei Jahre alt.
Die Familie half nicht, man unterstellte mir, ich würde mir die Probleme nur ausdenken. Vor den Jugendbehörden log ich, weil ich Angst hatte, sie nähmen meinen Bruder von mir weg. Die Nachbarn, die Lehrer, die Familie, sie alle schauten weg. So gab es nur ihn und mich.
Wir sind groß geworden. Meine Kindheitsträume verpufften. Ich habe kein Abitur gemacht, keine Rechtswissenschaften studiert. Ich fing mit 15 an zu trinken und zu rauchen, nahm Drogen. Irgendwann war ich so kaputt, dass ich nicht mehr für ihn da sein konnte. Ich flog zuhause raus, ging in die Obdachlosigkeit in die Großstadt, weil ich die sogenannte Gesellschaft nicht mehr ertrug. Mein Bruder musste sich allein durchbeißen.
Später erfuhr ich, dass unser Vater ihm gegenüber oft gewalttätig wurde. Er schaffte das Abitur trotz aller Furchtbarkeiten, verließ die Heimatstadt, studierte. Er lernte eine junge Mutter kennen, verliebte sich. Und sie hatte Angst, ihn zu verlieren, drohte immer wieder mit Selbstmord, er wäre Schuld, wenn ihr Sohn keine Mutter mehr hätte. Er schrieb seine Diplomarbeit. Dann hatte er kein Ziel mehr, keine Träume. Das letzte halbe Jahr haben wir viel telefoniert. Ich versuchte ihm Mut zu machen, wieder für ihn da zu sein. Eines Abends ging er Pizza holen. Die genauen Abläufe kann man nur erahnen. Irgendwie gelang er auf das Dach eines Hochhauses. Er hielt sich dort wohl mehrere Stunden dort auf. Während seine Freundin und die Polizei nach ihm suchten, muss er immer und immer wieder überlegt haben. Er sprang. Sein erster Suizidversuch, wohlüberlegt, sein letzter.
Seither kann ich nicht mehr atmen, nicht reden, nicht trauern. Ich habe Angst, ich ertrage es nicht. Wenn ich meinen Mann nicht hätte, und meine Schwester, wäre ich ihm gefolgt. Aber ich kann das niemandem antun. Ich kann diesen Schmerz niemandem zufügen. Ich wünsche mir, dass es aufhört. Jeden Tag wünsche ich mir eine tödliche Krankheit, damit ich nicht schuld bin, wenn ich sterbe. Ich kann mit niemandem darüber reden. Weil es sonst war wird und er tot ist.
Und jetzt höre ich auf zu schreiben, weil er mir schon wieder viel zu nahe ist und ich ihn spüre. Ich kann ihn nicht gehen lassen.
Liebe Grüße, June