Mein kleiner Bruder

In diesem Unterforum könnt Ihr Euch zum Thema Suizid (Selbstmord) und Tod austauschen, sowie der Trauer, die ein (Frei-)Tod hinterlässt.
Wichtig: Ihr könnt und dürft hier über Eure Suizidgedanken sprechen, allerdings sind konkrete Absichten bzw. Ankündigungen hier nicht erlaubt bzw. können evtl. an die Behörden weitergeleitet werden!

Mein kleiner Bruder

Beitragvon June » Fr. 23.03.2012, 17:50

Hallo Ihr Lieben,
eigentlich habe ich jetzt schon Angst, hier überhaupt zu schreiben. Da ich aber auch nach fast drei Jahren immer noch nicht über dieses Thema sprechen kann, dachte ich, dass es vielleicht leichter ist, es jemandem zu schreiben.
Ich kann weder mit meinem Mann, meiner Schwester oder meiner Therapeutin über den Suizid meines kleinen Bruders reden. Zu sehr schmerzt es. Ich merke, wie sich jetzt eine Unruhe in meiner Brust ausbreitet, wie schwer das Schlucken wird, wie der Magen aufbegehrt. Aber ich atme durch und schreibe es auf.
Mein Bruder und ich, lange Zeit gab es nur uns. Unser Vater widmete sich lieber dem Alkohol, er beleidigte uns und gab uns die Schuld für seiner Trinkerei. Manchmal verschwand er tagelang, rief früh morgens an, ich solle ihn bei seinem Arbeitgeber krankmelden. Seinen Frust ließ er an uns aus. Als meine Mutter ging und unsere ältere Schwester mitnahm, war ich 6 und mein Bruder drei Jahre alt.
Die Familie half nicht, man unterstellte mir, ich würde mir die Probleme nur ausdenken. Vor den Jugendbehörden log ich, weil ich Angst hatte, sie nähmen meinen Bruder von mir weg. Die Nachbarn, die Lehrer, die Familie, sie alle schauten weg. So gab es nur ihn und mich.
Wir sind groß geworden. Meine Kindheitsträume verpufften. Ich habe kein Abitur gemacht, keine Rechtswissenschaften studiert. Ich fing mit 15 an zu trinken und zu rauchen, nahm Drogen. Irgendwann war ich so kaputt, dass ich nicht mehr für ihn da sein konnte. Ich flog zuhause raus, ging in die Obdachlosigkeit in die Großstadt, weil ich die sogenannte Gesellschaft nicht mehr ertrug. Mein Bruder musste sich allein durchbeißen.
Später erfuhr ich, dass unser Vater ihm gegenüber oft gewalttätig wurde. Er schaffte das Abitur trotz aller Furchtbarkeiten, verließ die Heimatstadt, studierte. Er lernte eine junge Mutter kennen, verliebte sich. Und sie hatte Angst, ihn zu verlieren, drohte immer wieder mit Selbstmord, er wäre Schuld, wenn ihr Sohn keine Mutter mehr hätte. Er schrieb seine Diplomarbeit. Dann hatte er kein Ziel mehr, keine Träume. Das letzte halbe Jahr haben wir viel telefoniert. Ich versuchte ihm Mut zu machen, wieder für ihn da zu sein. Eines Abends ging er Pizza holen. Die genauen Abläufe kann man nur erahnen. Irgendwie gelang er auf das Dach eines Hochhauses. Er hielt sich dort wohl mehrere Stunden dort auf. Während seine Freundin und die Polizei nach ihm suchten, muss er immer und immer wieder überlegt haben. Er sprang. Sein erster Suizidversuch, wohlüberlegt, sein letzter.
Seither kann ich nicht mehr atmen, nicht reden, nicht trauern. Ich habe Angst, ich ertrage es nicht. Wenn ich meinen Mann nicht hätte, und meine Schwester, wäre ich ihm gefolgt. Aber ich kann das niemandem antun. Ich kann diesen Schmerz niemandem zufügen. Ich wünsche mir, dass es aufhört. Jeden Tag wünsche ich mir eine tödliche Krankheit, damit ich nicht schuld bin, wenn ich sterbe. Ich kann mit niemandem darüber reden. Weil es sonst war wird und er tot ist.
Und jetzt höre ich auf zu schreiben, weil er mir schon wieder viel zu nahe ist und ich ihn spüre. Ich kann ihn nicht gehen lassen.
Liebe Grüße, June
June
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon Tobi » Fr. 23.03.2012, 19:05

Herzlich Willkommen im Forum :)

Ich kann nur erahnen wie schwer es ist für dich darüber zureden,ich finde es sehr gut das du dich überwinden konntest das hier zu schreiben .Denn alles in sich rein fressen und nicht mit jemanden reden macht einen selber nur kaputt. Nur vom lesen habe ich Gänsehaut bekommen , es tut mir sehr leid das du so einen Schlimme Kindheit hattest. Du bist in Therapie ,nimmst du irgendewelche Medis ?

:cuddle:
Tobi
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon celestine » Fr. 23.03.2012, 20:47

Hallo June,,

das ist ein sehr sehr trauriger thraed, aber danke das es aufgeschrieben hast .
all das was du erleben musstet tut mir sehr leid...
und irgendwie fehlen mir nun die Worte...
ich werde dir etwas später mehr dazu schreiben
wir haben uns ja schon kurz im chat kennengernt und ich hoffe
das du dich hier im forum wohlfühlst und wir dir ein wenig
in deiner trauer beiseite stehen können.
bis bald lb. gr. celestine :cuddle:
celestine
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon Dubstep » Sa. 24.03.2012, 19:57

krass :/ dagegen kommen einen seine eigenen probleme so klein vor :/

Lass es dich nicht innerlich auffressen, das macht alles nur NOCH schlimmer :/
Dubstep
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon June » Sa. 24.03.2012, 22:27

Hi,
Danke Euch für Eure Antworten.
@Tobi: weiss grad nicht, ob das im Chat untergegangen ist. Hab lange Jahre erst Sertralin, später Trevilor genommen, auch schon vorher. Habs aber vor 1,5 Jahren abgesetzt, weil ich meine Denkfähigkeit und Kreativität verloren sah.
Seitdem nehme ich abends Opipramol, da mit der Denkfähigkeit auch die Unfähigkeit wiederkam, das Denken zum Schlafen abzuschalten zu können. Ohne kann ich abends nicht aufhören zu grübeln und Vergangenes zum x-ten Mal durchzuspielen. Aber Tagsüber fühl ich mich frei von der geistigen Trägheit, die Antidepressiva bei mir verursachen. Das ist ganz gut so.
@ celestine: Danke für Deine freundliche Art. Im "echten" Leben trifft man selten Menschen, die sich kümmern und offen sind.
@Dubstep: Kein Problem ist klein. Jedes ist ein Problem und immer ernstzunehmen. Ich hab mich lange genug eingesperrt und Du hast recht, beinahe hab ich mich auffressen lassen, wie Du es so schön ausgedrückt hast.

Meine Anmeldung hier und die Eröffnung dieses Threads sollen mir helfen, einen Anfang zu machen, damit ich vielleicht irgendwann einen Hauch von Normalität spüren kann. Ich habe so viel Angst vor dem Schmerz, der noch vor mir liegt, vielleicht hab ich vieles deshalb noch nicht betrachten und besprechen können. Vielleicht kann ich es schaffen, immer nur ein bisschen anzuschauen, damit es mich nicht überrollt.
In meiner zweiten Reha habe ich gern das Bild vom weiten Ozean benutzt, um zu erklären, wie ich mich fühle. Kein Land ist zu sehen, und immer, wenn ich mich gerade an die Oberfläche gekämpft habe, um Luft zu bekommen, kommt die nächste Welle, bricht über mir herein, wirbel mich tiefer und tiefer. Ich kämpfe, bloß die Luft anhalten, die Lungen schmerzen, das Tageslicht erscheint so fern, als ich es entdecke. Mit letzter Kraft kämpfe ich mich nach oben und die nächste Welle kommt.
Lieber Gruß, June
June
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon Dubstep » Sa. 24.03.2012, 22:45

wow. :respekt: dass du in deiner situation mich ein stück weit aufbauen konntest..

ich weiß echt nicht wie ich dir helfen könnte, aber ich wünsch dir echt alles alles gute für deinen weg :kiss:
Dubstep
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon sternenstaub » So. 25.03.2012, 12:06

Oh June,

vielen Dank für deine Offenheit.
Ich habe jetzt schon mehrmals deinen Thread gelesen, doch mir fehlen die richtigen Worte; falls es diese überhaupt gibt.

Dubstep hat geschrieben:Vielleicht kann ich es schaffen, immer nur ein bisschen anzuschauen, damit es mich nicht überrollt.

Ich finde den Gedanken ganz gut. Und ein klein wenig hast du damit ja hier nun angefangen. Aber setzt dich nicht zu sehr unter Druck. Du hast viel erlebt und es braucht Zeit, dieses alles aufzuarbeiten.
Ich selber habe auch gerade erst mit einer Therapie angefangen und es ist echt schmerzlich. Aber ich weiß oder hoffe, dass dies auch wieder geht und ich dann anschließend damit besser leben kann. Das Geschehene wird immer ein Teil von mir bleiben, doch vielleicht schaffe ich es ja irgendwann, dass die negativen Gefühle / die Tat mich nicht mehr dominieren, sondern ich mit diesen Gefühlen besser leben kann und ich das Leben mehr genieße.
Machst eigentlich gerade eine Therapie?

Ich wünsche dir ganz viel Kraft, Mut und Energie
Alles liebe
Sternenstaub
sternenstaub
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon Dubstep » So. 25.03.2012, 12:14

Sternenstaub , wolltest du nicht June statt mich zitieren? ^^

aber in deinen worten stimme ich dir zu ;)
Dubstep
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon sternenstaub » So. 25.03.2012, 12:19

Oh ja dubstep. Keine Ahnung wie das passieren konnte.

Aber das Zitat ist natürlich von June! Entschuldigt bitte.
sternenstaub
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon June » So. 25.03.2012, 18:59

Hallo Sternenstaub,

vielen Dank für Deine Worte.
Ich habe vor ca. einem Jahr meine zweite Therapie angefangen. Die erste musste ich leider nach 25Std. beenden, weil meine damalige, noch sehr junge und unerfahrene Therapeutin, sich nicht in der Lage sah, sich ausreichend abzugrenzen. Wir hatten die Sitzungen angefangen, bevor mein Bruder starb, also mit einem ganz anderen Hintergrund. Sie wollte auch versuchen, mir zu helfen, jemand anderen zu finden, aber ich sah mich außerstande, wieder von vorne anzufangen. Dann hab ich mich ein Jahr zurückgezogen, was sich für mein Empfinden als richtig erwies. Luft holen, Abstand gewinnen, ist nicht immer falsch. Voriges Jahr hats mich dann wieder gepackt und hab Glück gehabt, dass eine sehr erfahrene Therapeutin bereit war, mich aufzunehmen.
Leider will die Krankenkasse nur noch 25 weitere Stunden Tiefenpsychologische Therapie bezahlen. Dann SOLL ich eine analytische anfangen. Ich hab enorm Angst davor, dass es mir zu viel, zu intensiv wird. Und wieder jemand neuen suchen, wieder von vorne anzufangen, das schreckt mich schon ab. Aber ich hab mir fest vorgenommen, die verbliebenen 24 Stunden mit meiner Therapeutin dahingehend zu nutzen, mich draufeinzustellen. Ich werds auf jeden Fall versuchen. Sie will mir auch helfen, jemanden zu finden, weil ich immer noch nicht mit Fremden telefonieren kann und enorme Angst vor Ablehnung hab.
In der jetzigen Therapie hab ich schon viel gelernt und echt Fortschritte gemacht. Noch vor einem halben Jahr hätte ich mich hier nicht äußern können. Und um den Chat werde ich wohl auch noch eine Weile rumschleichen. Aber ich meld mich bestimmt später noch mal rein. Gehört auch zu meiner Strategie. Immer angreifen.

Liebe Grüße, June
June
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon Momo » So. 25.03.2012, 19:32

June hat geschrieben: Gehört auch zu meiner Strategie. Immer angreifen.


Hallo June,
was meinst du genau damit? Angreifen, die Ängst zu besiegen,...?

Es ist ein sehr trauriger Thread, es tut mir so leid was dir alles passiert ist.
Aber zugleich lerne ich gerade eine Kämpferin kennen, die so viel Hoffnung und Mut hat.

Vielen Dank für deinen kleinen Einblick!

Momo
Momo
 

Re: Mein kleiner Bruder

Beitragvon June » So. 25.03.2012, 19:52

Hallo Momo,
danke für die lieben Worte.

Mit "angreifen" meine ich, dass ich immer wieder aufstehe und und mich genau den Situationen aussetze, vor denen ich angst habe. Manchmal dauert es länger, bis ich was in Angriff nehme, weil ich hab mittlerweile eingesehen habe, dass ich die Zeit auch brauche, um mich auf etwas vorzubereiten.
Eigentlich hab ich immer Druck, etwas zu tun, ich kann oft nicht stillhalten und aushalten, ich MUSS etwas tun. Ich weiß nicht, wo das herkommt, aber es hat mich bis zum heutigen Tag am Leben gehalten, also nicht sooo falsch. Ich hab aber auch schon festgestellt, dass es mir nicht immer gut tut, wenn ich Dinge zu schnell angehe. Das musste ich vor zwei Jahren lernen, als ich mich mit Terminen bei Psycho-, Ergo- und Physiotherapie zugeballert hab. Da gings plötzlich rapide bergab, Stress pur. Ich hab mich zu oft gezwungen, über meinen Schatten zu springen. Jetzt geh ichs langsamer an und überlege lange, ob es gut für mich ist, mich bestimmten Situationen auszusetzen.
Ob ich eine Kämpferin bin, kann ich nicht sagen. Ich fühle mich oft eher getrieben. Aber vielen Dank für das Kompliment.
June
 


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