von Lingenia » Mo. 01.11.2004, 20:38
Engel, Engel, Engel
„Also habe ich doch deine Stimme gehört.“
„Ja, ich habe dich gerufen. Und du bist gekommen. Du warst schon immer empfänglich für so was.“
„Du siehst... gut aus.“
„Angeblich wird man zu einer idealisierten Version seiner selbst. So wie man sich gerne gehabt hätte. Siehst du, ich bin jetzt schlanker.“
„Ich meinte eigentlich die...“
„Die Flügel? Tja, ohne sie könnte ich wohl kaum auf diesem schmalen Geländer hier sitzen, oder? Und dann würde ich rückwärts auf die Autobahn runterpurzeln.“
„Sind die nicht schwer?“
„Sie sind aus Federn...“
„So.“
„Du willst sicher wissen, warum ich dich gerufen habe, oder?“
„Eigentlich glaube ich ja noch, dass ich träume...“
„Würdest du sonst den Fahrtwind der Autos spüren? Oder die Kälte des Abends? Hast ja bloß Pyjamas an...“
„Stimmt wohl.“
„Seltsam.“
„Was?“
„In meinen Träumen warst du es immer, die gestorben ist, bevor ich es dir sagen konnte. Du warst immer die, die einen Tumor oder Aids hatte und mir unter den Fingern weggerieselt ist wie Sand, bevor ich es schaffte, die Worte zu sagen, die ich vor Jahren hätte sprechen sollen.“
„Gott hat einen seltsamen Sinn für Humor, was?“
„Das hast du immer gesagt. Auch das habe ich geliebt. Doch auch das ist nun Vergangenheit. Bitte, weine doch nicht!“
„Warum tust du mir das an?“
„Ich konnte es mein Leben lang nicht sagen. Vielleicht weil ich dachte, ich hätte noch ein Leben lang Zeit dazu. Doch jetzt ist dies meine letzte Gelegenheit es zu sagen. Sonst bleibt es ewig ungesagt. Dann hinterlasse ich ein Loch, wo ich doch Wärme hinterlassen wollte.“
„Warum bist du gegangen?“
„Es war Zeit. Ich war bereit. Es passt schon so.“
„Du hast dich nicht mal verabschiedet.“
„Auf meine Art schon.“
„Warst du wütend auf mich?“
„Weil du glücklich warst? Nein. Oder weil du nicht da warst, als alles so dunkel und kalt wurde? Nein. Glaub’ mir, sterben ist nicht so schlimm, wie man’s immer liest.“
„Ich habe mir Vorwürfe gemacht.“
„Ich weiß, und auch deshalb habe ich dich gerufen.“
„Es tut mir alles so leid.“
„Du warst nur du. Das war nicht falsch, sondern genau richtig. Doch ich konnte nicht aufhören ich zu sein. Deshalb hat eben nicht Alles geklappt, wie wir Beide es wollten. Es gehörte so. Es war, und ist, unser beider Schicksal. Stell dir doch mal vor, wie traurig du jetzt wärst, wenn du mich erwählt hättest! Glaube mir, es ist O. K.“
„Die Welt ist so seltsam. Sie dreht sich und dreht sich. Die Menschen streben nach Glück, doch sobald sie es finden verursachen sie damit das Unglück anderer.“
„Nicht Unglück...nur eine kleine Depri. Umgebracht hat es mich letztendlich nicht. Dafür sorgte schon dieser riesige Tumor in meinem Hirn.“
„Ich...“
„Wein doch nicht! Es passt nicht zu dir! Ich habe dich überhaupt noch nie richtig weinen sehen. Einmal, da hättest du fast und mein herz wollte mir zerspringen. Noch nicht einmal mein Kopf hat jemals so wehgetan.“
„Warum musste es so sein?“
„Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hart, aber die Welt brauchte mich einfach nicht. Die Welt wäre die gleiche mit mir, als wie ohne mich.“
„Wie kannst du so was nur sagen?“
„So ist es aber. ich hab’s doch hier erklärt bekommen. Der einzige Grund, warum Menschen leben, ist der, dass sie einen Nutzen haben. Etwas bewirken, etwas verändern, jemanden treffen. und sei es nur, dass du eines Tages den Knopf an einer Ampel drückst, damit sie auf Grün umspringt, und ein kleiner Junge, der kurz darauf ohne hinzuschauen über diese Straße läuft somit nicht überfahren wird. Dass war dann diene Aufgabe. Dafür hast du gelebt, bist geboren worden, hast gelernt, einen Charakter entwickelt, ein Universum in dir drin aufgebaut. Und dann sagt dir jemand: Das war der Sinn deines Lebens und nun kannst du der Welt nichts mehr geben.“
„Das ist nicht war, du hattest viel zu geben.“
„Wäre ich sonst derjenige von uns Beiden mit den Staubwedeln auf dem Rücken? Im Ernst, so funktioniert das aber. Und wenn du noch eine Aufgabe hast, dann wird das Unglück, egal wie groß, von dir abgewandt.“
„Das glaube ich nicht.“
„So ist es aber. Erinnerst du dich an das eine Mal, als du dich von diesem Italiener im Urlaub hast abschleppen lassen?“
„Woher weißt du... oh, schon klar. Ja?“
„Er hatte Aids. Du wurdest nur nicht infiziert, weil du in zehn Jahren ein Buch über ein Madchen schreiben wirst, dass alle möglichen schrecklichen Dinge erleiden muss, ihrem Leben aber kein Ende setzten kann, weil sie als Kind Gott geschworen hat, sie würde sich niemals umbringen und dieses Versprechen will es nicht brechen. Dieses Buch wird ein Mädchen davon abhalten Selbstmord zu begehen. Sie wird vom Vorbild deiner Figur gestärkt und inspiriert durchs Leben gehen...und eines Tages die erste Frau im weißen Haus werden.“
„Wow.“
„Tja, fühl dich geehrt, eine solch wichtige Aufgabe zu haben. Meine war dagegen je eher mickrig.“
„Komm schon. Vielleicht wird dein Junge auch mal Präsident.“
„Nein. Er wird mal Bauingenieur. Aber seine Tochter wird mal dem Papst das Leben retten. Das ist ja auch schon mal was.“
„Äh...ja.“
„So, ich sollte wohl bald gehen. Sie rufen mich schon. Wie du dir denken kannst ist meine Zeit begrenzt. Vorsicht auf die Flügel! Mir fehlt noch ein bisschen Übung im Umgang damit.“
„Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?“
„Kannst du es dir nicht denken? Ich glaube schon.“
„Aber sonst wäre unser ganzes Gespräch doch umsonst gewesen! Und dass du gekommen bist auch!“
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du dich morgen noch an irgendetwas von dem hier erinnern wirst, oder? Hallo Mädchen! Ich habe dir gerade den Sinn deiner Existenz verraten!“
„Wohl eher nicht, hast recht. Jetzt hättest du mich beim schlagen mit dienen Flügeln fast von der Brücke gefegt!“
„Sorry. Wir werden uns sich er in einem anderen Leben wiedersehen.“
„Warte! Würdest du...es trotzdem sagen?“
„Du hast früher nie Wert darauf gelegt, warum dann jetzt auf einmal?“
„Weil ich sehe, dass du weiter leiden wirst, wenn du es nicht sagst.“
„Haha...du kennst mich einfach zu gut. Das konnte ja von Anfang an nicht gut gehen. also bis dann. Ein schönes Leben noch. Ich liebe dich!“
„Vie...viel Glück!“
„Ich liebe dich!“
„Als würde der Wind es sagen. Und in meiner Erinnerung wird es auch der Wind sein.“