Vom Anfang zum Ende

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Vom Anfang zum Ende

Beitragvon Roni » Do. 10.12.2009, 12:38

Es gibt viele erwachsene Menschen die nicht die einfachsten Rechenaufgaben lösen können, einfach weil sie von ihrem Vater das Matheheft um die Ohren gehauen bekommen haben wenn sie etwas nicht verstanden hatten. Sie wussten nicht, dass es sie in ihrem ganzen Leben behindern wird, dass sie genötigt sein werden ihre Unkenntnis ewig zu verbergen, dass das Wissen um die Zahlen sehr viel Geld im Haushalt sparen wird und die beruflichen Möglichkeiten ungemein erweitert. Sie werden noch nicht einmal wissen, dass Mathematik eine ziemlich einfache Sache ist.

Es gibt Menschen die in der Schule acht Jahre lang eine Fremdsprache gelernt haben und zwei Jahre später kaum einen Satz in dieser Sprache zusammen bekommen. Sie wissen nicht, dass es einfach ist eine Fremdsprache zu beherrschen, dass es Freude macht, sich mit Menschen anderer Muttersprache auszutauschen, dass schon die fremde Sprache ein anderes Denken vermittelt und den Blick für die Welt öffnet. Die Freude an der Fremdsprache ist ihnen von einem Schulsystem, welches Kinder als Problem erkennt nicht vermittelt worden oder genommen worden.

Es gibt sehr viele erwachsene Menschen die nicht das einfachste von Chemie oder Physik verstanden haben, einfach weil an der Tafel ein Lehrer stand der junge Menschen für fremdartige Lebewesen hielt und auch nicht darin ausgebildet wurde wie junge Menschen für die Naturwissenschaften begeistert werden können. Und doch haben alle diese Erwachsenen Menschen eine Meinung wenn es um Atomkraft dafür oder dagegen geht obwohl sie praktisch kein Wissen darüber haben. Vom Arzt bekommen sie Chemie in Tablettenform und können nicht wissen was diese mit ihrem Körper anrichtet. Im Supermarkt greifen sie nach Lebensmitteln die nicht mehr viel mit Lebens zu tun haben, weil sie wegen ihrer vermittelten Unkenntnis einer Industrie blind vertrauen müssen.

Die allermeisten Menschen können keine Noten lesen obwohl sie viele Jahre lang Musikunterricht hatten, doch der Lehrer musste ein Virtuose auf seinem Instrument sein um als Lehrer ausgebildet zu werden und hat doch keinen Schimmer wie er einem jungen Menschen sein Wissen und Können vermitteln kann, das hat er nicht gelehrt bekommen. Sind diese Menschen dann erwachsen werden sie der Musik nur als Konsument dienlich sein. Sie werden nicht singen, kein Instrument spielen und schon gar nicht mit anderen Menschen zusammen musizieren. Ihnen wird eine wunderschöne Seite des Lebens für immer verborgen bleiben.

Es gibt erwachsene Menschen die fast gar nicht lesen oder schreiben können. Einfach deshalb, weil sie sich in den ersten Wochen und Monaten in der Schule nicht auf den Unterricht konzentrieren konnten. Sie konnten es nicht, weil sie etwas anderes nicht verstehen konnten. Sie mussten die ganze Zeit des Unterrichts darüber grübeln warum die Mama zuhause weint, wieso der Papa nicht mehr da ist, warum die anderen Schüler so bösartig sind. Sie konnten nicht lernen weil sie grübeln musste über diese schlimmen Träume und sie mussten über noch viel schlimmere Dinge grübeln. Doch vor allem aber verstanden sie nicht, warum keiner da ist der zuhören kann und vielleicht eine dieser Fragen beantworten kann und zwar so, dass sie verstanden werden können, einfach ehrlich. Diese Kinder werden in der Schule auffallen. Nicht als Glanzpunkt der Pädagogik, weil ja die Lehrer und die Eltern perfekt sind. Das Kind muss es sein, das nicht stimmt. Dem Kind wird eine Krankheit hineininterpretiert, dem Kind wird vermittelt es sei fehlerhaft. Es wird schon weltweit fieberhaft an einer Pille gegen Legastenie geforscht.

Doch jetzt folgt das schlimmste, das traurigste Kapitel: Dieses Kind findet die Antwort auf seine Fragen: Es ist schuld daran, dass Mama weint, dass der Papa nicht mehr da ist, dass die Kinder in der Schule so bösartig zu ihm waren, es ist schuldig für all die anderen bis jetzt unverständlichen schlimmen Dinge. Das Kind ist ungenügend. Dieses Kind wird, wenn es erwachsen ist, froh sein wenn es irgend eine einfache Arbeit machen kann, wo es nie wieder auffallen wird. Dieses Kind wird alles tun um nie wieder aufzufallen. Dieses Kind wird froh sein, wenn sich auch nur irgend ein Mensch jemals mit ihm abgibt. Es wird froh sein, wenn ein Mensch ein wenig das Leben mit ihm teilen möchte auch wenn diese Beziehung von Erniedrigung und Gewalt regiert wird, so ist doch wenigstens ein Mensch da, denn dieses Kind will endlich mal nicht alleine sein.

Es ist unfassbar, so unglaublich, es wird noch schlimmer, noch viel viel trauriger: Dieses Kind wird nie erfahren, dass es unschuldig ist, dass es absolut und komplett unschuldig ist, dass es seine sieben Sachen packen kann um fort zu gehen und überall auf der Welt mit jedem Menschen ein glückliches Leben leben kann. Einfach so. Nur einfach so. Es wird ewig versuchen zu funktionieren, zu kämpfen, sein bestes zu geben, nicht aufzufallen, still zu halten, und ... vielleicht sogar ... aus dieser Welt zu verschwinden – mit seinem schönen einzigartiges Leben.

Doch es hält aus, denn da muss es noch etwas geben, das kann doch nicht das Leben sein, und das Kind wird viele Jahrzehnte alt, und eines Tagen wird es so krank, so krank, dass es weiß, es wird in wenigen Monaten sterben, doch auch dies wird es niemandem verraten, es will um nichts in der Welt auffallen, es ist ein Makel krank zu sein, es ist ein Makel zu sterben. Und so kann dieses Kind noch nicht einmal in den letzten Tagen seines Lebens einem Menschen sagen: „ich hab dich lieb“ – denn …………………… es würde auffallen.
Roni
 

Re: Vom Anfang zum Ende

Beitragvon nera » Do. 10.12.2009, 15:58

hi roni,
das ist sehr traurig aber leider nicht so selten. es gibt so viele menschen die davon betroffen sind.
nie eine wirkliche chance zu haben und es nicht zu wissen!
:(
nera
 

Re: Vom Anfang zum Ende

Beitragvon senta » Do. 10.12.2009, 16:21

Hi roni,
das finde ich auch sehr traurig, sicher gibt es so viele Menschen mit dem denkbar schwierigsten Start ins Leben.
Heute gibt es allerdings so viele Hilfsangebote und Möglichkeiten Unterstützung zu bekommen, die jeder erreichen kann, wenn er will, um einiges nach zu holen, vor allem seelisch.
Auch das unglücklichste Kind auf der Welt (auf jeden Fall in Deutschland oder Österreich) wird erwachsen und hat die Chance, die Verantwortung für sein Leben selbst zu übernehmen und etwas zu ändern.
Tut mir leid, wenn ich Dich damit vielleicht kränke, denn es scheint viel Deiner eigenen Lebensgeschichte darin zu stecken (oder täusche ich mich), aber ich sehe das alles nicht so aussichtslos in unserer heutigen Zeit.
Die Kindheit prägt uns sicherlich, und Schule kann auch viel verderben, doch das ist kein endgültiges Urteil über den weiteren menschlichen Werdegang, sorry, das sehe ich ein bißchen anders.
senta
senta
 

Re: Vom Anfang zum Ende

Beitragvon Roni » Do. 10.12.2009, 19:29

hallo senta,

ist lieb gemeint von dir, ist vielleicht was von mir drinn.

Gestern hatte ich ein paar ältere Beiträge in diesem Forum durchstöbert. Abends konnte ich dann nicht mehr einschlafen und hab einfach diesen Text geschrieben. Da stecken einige Leute aus diesem Forum drinne und statt Legastenie hätte ich auch Konzentrationsschwäche, Aufmerksamkeitsschwäche, Schüchternheit, Aggressivtät, Sprachfehler und noch so einige Äußerlichkeiten einsetzen können womit Kinder auffallen und zum Problem degradiert, gemaßregelt, angepasst, professionell behandelt und gedisst werden. Die Legastenie hatte ich ausgewählt weil hier im Forum einige auf einem solchen Menschen herumgehackt haben und dann auch noch mit Maßregelung gespielt wurde. Das ging mir nicht aus dem Kopf.

Lieb Grüße sendet
Roni
Roni
 


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