von Genießer » Mi. 13.09.2006, 06:20
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Essen, Serotonin und Psyche: Die unbewußte nutritive Manipulation von Stimmungen und Gefühlen (Huether, Prof. Dr. med. Gerald; Schmidt, Sabine; Rüther, Eckart)
Deutsches Ärzteblatt 95, Ausgabe 9 vom 27.02.1998, Seite A-477 / B-384 / C-362 (MEDIZIN: Kurzberichte)
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Das serotonerge System ist als globales Transmitter-System entscheidend an der Koordinierung und Harmonisierung der in räumlich getrennten, lokalen neuronalen Netzen generierten Aktivitäten und daher an der Regulation von Stimmungen und Affekten beteiligt. Nach Einnahme besonders kohlenhydrat- oder fettreicher Nahrungsmittel kommt es postprandial zu einer vermehrten Verfügbarkeit von Tryptophan und damit zu einer verstärkten Synthese und Freisetzung des aus Tryptophan gebildeten Serotonins durch serotonerge Präsynapsen. Fasten führt nach einigen Tagen zur Herabregulation der Dichte von Serotonintransportern im Kortex und damit zu einer verminderten Wiederaufnahme des ausgeschütteten Serotonins durch die serotonergen Präsynapsen. Durch Einnahme von kohlenhydrat- oder fettreichen Speisen läßt sich daher eine kurzzeitige, durch Fasten eine langanhaltende Verstärkung des "Outputs" serotonerger Synapsen erreichen. Emotional labile Personen sind besonders gefährdet, bei psychischen Belastungen eine dieser beiden Möglichkeiten zur nutritiven Manipulation zentralnervöser Verarbeitungsmechanismen unbewußt einzusetzen. Durch assoziative Bahnungsprozesse kann es zur Ausbildung psychischer Abhängigkeiten kommen.
Die Speisen haben vermutlich einen sehr großen Einfluß auf den Zustand des Menschen, wo er jetzo ist. Der Wein äußert seinen Einfluß mehr sichtbar, die Speisen tun es langsamer, aber vielleicht ebenso gewiß . . . (Lichtenberg, 1742 bis 1799).
G. C. Lichtenberg war ein ausgezeichneter Beobachter. Er faßte in Worte, was jeder, der genug zu essen hat, täglich an sich selbst beobachten kann. Manche werden äußerst unwirsch, wenn ihr Essen zur Mittagszeit nicht pünktlich auf dem Tisch steht, und anderen fällt das Denken mit vollem Bauch besonders schwer. Am interessantesten sind jedoch diejenigen, die sich bei innerer Unruhe oder angesichts bestimmter zu lösender Probleme erst einmal ein Stück Kuchen oder Schokolade leisten. Die meisten von uns können den unterschiedlichen Effekt einzelner Speisen einschätzen und haben bereits als Kinder gelernt, welche Speisen, Nahrungs- oder Genußmittel ihre Stimmung heben und welche nicht. Besonders deutlich tritt dieses unbewußte Wissen dann zutage, wenn wir schlechter Stimmung sind. Bemerkenswerterweise wird dann immer eine von zwei alternativen Strategien eingeschlagen, um durch eine Änderung des Eßverhaltens das Stimmungstief zu überwinden. Einige Menschen verspüren den unbändigen Wunsch nach kohlenhydratreicher oder besonders fetthaltiger Kost; andere hingegen verzichten völlig auf Nahrung und legen eine Fastenperiode ein. Wenn ein und derselbe Effekt - nämlich eine Stimmungshebung - durch zwei so unterschiedliche Strategien erreicht wird, liegt die Vermutung nahe, daß ein bestimmtes, an der Stimmungsregulation beteiligtes System im Gehirn sowohl durch kohlenhydrat- und fettreiche Nahrung als auch durch Fasten in ähnlicher Weise beeinflußt wird. Ein System, das für die zentrale Regulation der Stimmung von besonderer Bedeutung ist, ist das zentrale serotonerge System. Es ist dasjenige System, das durch alle legalen und illegalen "Glückspillen" aktiviert wird (angefangen mit den einfachen Wiederaufnahmehemmern wie Fluctin, weiter über Entspeicherer und gleichzeitige Wiederaufnahmehemmer mit euphorisierender Wirkung wie Ecstasy bis hin zu den halluzinogenen selektiven Serotoninrezeptoragonisten wie LSD), und es ist auch das System, welches insbesondere bei depressiven Erkrankungen und Angststörungen nicht mehr normal funktioniert. Dieses serotonerge System benötigt als Vorstufe für die Synthese seines Neurotransmitters die in unserer Nahrung am seltensten vorkommende essentielle Aminosäure, Tryptophan. Da die serotonergen Präsynapsen bei einem vermehrten Tryptophanangebot mehr Serotonin produzieren können, reagieren sie zwangsläufig sehr empfindlich auf Änderungen ihrer Tryptophanverfügbarkeit (8, 25).
Einfluß von Kohlenhydrat- und fettreichen Speisen
Schon vor einigen Jahren wurde die Frage beantwortet, warum gerade die Aufnahme einer proteinarmen, aber kohlenhydrat- oder fettreichen Diät die für die Synthese von Serotonin im Gehirn zur Verfügung stehende Konzentration an Tryptophan erhöht: Die Einnahme einer kohlenhydratreichen Mahlzeit stimuliert die Insulinsekretion. Das vermehrt ausgeschüttete Insulin steigert die Aufnahme all derjenigen großen neutralen Aminosäuren in die Muskelzellen, die mit Tryptophan über einen kompetitiven Transportmechanismus in das Gehirn gelangen. Da nun Tryptophan im Verhältnis zu den anderen großen neutralen Aminosäuren in höherer Konzentration im Blut zirkuliert, wird es auch vermehrt in das Gehirn transportiert. Die serotonergen Nervenendigungen können somit mehr Serotonin produzieren und bei jeder Aktivierung freisetzen (7, 9). Der "Output" serotonerger Afferenzen wird auf diese Weise nach der Einnahme einer kohlenhydratreichen Speise oder einer kleinen "Süßigkeit" deutlich erhöht. Derselbe Effekt läßt sich, wenngleich über einen anderen Mechanismus, auch durch eine fettreiche Mahlzeit oder eine kleine "Fettigkeit" erreichen (4, 20, 28). Die postprandiale Erhöhung freier Fettsäuren im Blut führt zur Verdrängung des an Albumin gebundenen Anteils von Tryptophan. Das so freigesetzte Tryptophan wird vermehrt in das Gehirn transportiert und steht nun aus diesem Grund vermehrt für die Synthese von Serotonin durch die serotonergen Präsynapsen zur Verfügung. Die Aktivierung des serotonergen Systems kann daher zumindest für einige der nach dem Verzehr kohlenhydrat- beziehungsweise fettreicher Speisen postprandial auftretenden Veränderungen unserer allgemeinen Stimmungslage verantwortlich gemacht werden (21, 29, 30): Man fühlt sich irgendwie wohl, hat keinen Hunger mehr, ist etwas schläfrig, weniger schmerzempfindlich und ängstlich, ist einfach "besser drauf", was immer das im konkreten Einzelfall heißen mag.
Einfluß von Nahrungsrestriktion und Fasten
Aus Tierversuchen ist ebenfalls schon seit längerem bekannt, daß es auch bei kurzzeitiger Nahrungskarenz zu einer erhöhten Tryptophanverfügbarkeit im Gehirn und daher zu einer gesteigerten Serotoninsynthese und freisetzung durch serotonerge Präsynapsen kommt (5, 10, 18, 24, 26). Welche metabolischen Umstellungen dieser vermehrte Tryptophanverfügbarkeit verursachen und wie lange sie anhält, ist bislang noch unklar. Noch interessanter ist ein kürzlich beschriebener zweiter Effekt auf das serotonerge System, der erst nach einigen Tagen eintritt (16): Nahrungsrestriktion vermindert die Anzahl von Serotonintransportern an den Nervenendigungen serotonerger Neurone. Wenn Ratten nur die Hälfte ihrer normalerweise täglich aufgenommenen Futtermenge bekommen, führt diese restriktive Ernährung (die mit einer zehn- bis 20prozentigen Gewichtsreduktion einhergeht) nach einer Woche zu einer deutlichen Verringerung der Dichte von Serotonintransportern im Kortex. Nach vierzehntägiger Nahrungsrestriktion ist dieser Effekt noch ausgeprägter. Interessanterweise läßt sich diese Herabregulation der Transporterdichte nur bei jungen, nicht jedoch bei älteren Tieren auslösen. Aufgrund der verringerten Serotonintransporterdichte im Kortex kommt es zu einer permanent verminderten Effizienz der Wiederaufnahme des freigesetzten Transmitters. In gewisser Weise ähnelt also die durch Nahrungsreduktion ausgelöste Verringerung der Serotonintransporterdichte den durch Gabe von Serotoninwiederaufnahmehemmern ausgelösten Effekten. In beiden Fällen ermöglichen die erhöhte Konzentration und längere Verweildauer von Serotonin im extrazellulären Raum eine länger andauernde und weiterreichende Interaktion dieses Transmitters und Neuromodulators mit einem seiner zahlreichen Rezeptoren an nachgeschalteten neuronalen oder glialen Zellen. Durch die zusätzlich bei restriktiver Ernährung gesteigerte Serotoninsynthese und -freisetzung wird die extrazelluläre Konzentration des Serotonins und damit die Dauer und der Radius der Transmitterwirkung in noch stärkerem Ausmaß als durch die selektiven Wiederaufnahmehemmer erhöht.
Die psychischen Effekte des Fastens sind ebenso beeindruckend wie altbekannt. Zunächst beherrscht das Hungergefühl und das damit verbundene Unbehagen die Stimmung des Fastenden. Dieses starke Hungergefühl verschwindet jedoch nach einigen Tagen; es folgt eine durch Nahrungsrestriktion ausgelöste Anorexie (7). Jetzt kommt der ebenfalls schon seit langem bekannte stimmungsstabilisierende und spannungslösende Effekt des Fastens zum Tragen. In vielen Kulturen wird das Fasten zur Erlangung transzendentaler Bewußtseinszustände im Rahmen religiöser oder spiritueller Handlungen angewendet. Selbst religiöse Gebräuche wie unsere vorösterliche Fastenperiode oder der islamische Ramadan scheinen auf der empirischen Erfahrung dieser biologischen Effekte zu beruhen. Das Fasten wurde aber auch von verschiedenen medizinischen Schulen zu Heilzwecken benutzt. Schon im vierten Jahrhundert vor Christus, zur Zeit des Hippokrates, begann man, das Fasten zur Therapie körperlicher und geistiger Erkrankungen einzusetzen. Heute wird es verstärkt im Rahmen der Ganzheitsmedizin, zum Beispiel in Fastenkliniken, angewendet. Nach zwei oder drei freiwilligen Fastentagen, also etwa dann, wenn sich auch bei Versuchstieren die Herabregulation der Dichte von Serotonintransportern beobachten läßt, schwindet bei den meisten Menschen das Hungergefühl, und sie erleben eine deutliche Stimmungsstabilisierung, die manchmal sogar mit Euphorie und Gefühlen der Transzendenz gekoppelt ist (2, 3, 12). Die Ähnlichkeiten zwischen den psychischen Effekten einer längerandauernden Fastenperiode und den anorektischen, psychostimulierenden und halluzinogenen Wirkungen serotoninagonistisch wirksamer Drogen sind bemerkenswert. Diese Gemeinsamkeiten lassen sich zumindest teilweise durch die durch Nahrungsrestriktion hervorgerufene Herabregulation der Serotonintransporterdichte und die dadurch ausgelöste Verstärkung serotonerger Aktivität erklären.
Diese Befunde geben gleichzeitig einen interessanten Einblick in die normale biologische Funktion des serotonergen Systems. Es wird gegenwärtig als ein global wirksames permissives System betrachtet, das die Verarbeitung von eintreffenden Informationen in seinen Projektionsgebieten moduliert und filtert und so zur Koordinierung und Globalisierung der in räumlich getrennten Netzwerken generierten neuronalen Aktivitäten beiträgt (17, 27). Aus diesem Grund sind die Richtung, die Art und die Intensität der unter dem Einfluß von Nahrungsrestriktion eintretenden Stimmungsänderungen - wie übrigens auch die Effekte der serotoninagonistisch wirksamen psychedelen und entaktogenen Drogen - in starkem Maße von der aktuellen Stimmungslage einer Person, von ihrem Umfeld, ihrer Motivation und ihren bereits gemachten Erfahrungen abhängig. Deshalb kann Fasten, wenn es freiwillig und in einem entsprechenden Umfeld, zum Beispiel als kultureller Brauch bei religiösen oder spirituellen Handlungen, durchgeführt wird, Gefühle innerer Harmonie und Transzendenz verstärken, wohingegen eine erzwungene, unfreiwillige Einschränkung der Nahrungsaufnahme zu erhöhter Erregbarkeit, Aggressivität und nach längerer Dauer auch zu emotionaler Instabilität, Dysphorie und Apathie führt (19).
Psychische Abhängigkeiten durch unbewußte assoziative Bahnung
Relativ viele Menschen leiden unter starken Stimmungsschwankungen. Da für sie jede stimmungshebende Maßnahme große Anziehungskraft besitzt, ist die Gefahr groß, daß sie unbewußte Assoziationen zwischen bestimmten Verhaltensweisen und deren positivem Einfluß auf ihre Stimmung herstellen. Durch Wiederholung verstärkt, können die für eine solche Assoziation verantwortlichen neuronalen Verschaltungen so stark gebahnt werden, daß schließlich jedes Stimmungstief zwanghaft mit einer unbewußten automatisierten Reaktion beantwortet wird (15). Das ist nicht nur das psychoneurobiologische Substrat für die Herausbildung einer psychischen Abhängigkeit von bestimmten Drogen. Auch die unbewußte Assoziation zwischen der Einnahme kohlenhydratbeziehungsweise fettreicher Speisen oder mehrtägigem Fasten und der jeweils erlebten Stimmungsverbesserung kann in eine derartige Abhängigkeit führen. Sowohl bestimmte Substanzen als auch bestimmte Eßgewohnheiten, die die Aktivität des serotonergen Systems spürbar verstärken, scheinen in dieser Hinsicht ein besonders hohes psychisches Abhängigkeitspotential zu besitzen. Sehr sensible Menschen, die ein nur unzureichendes Repertoire an geeigneten Strategien zur Bewältigung von Belastungen besitzen, sind besonders gefährdet, derartige Abhängigkeiten zu entwickeln. Leichte, kurzzeitig auftretende Stimmungstiefs sind besonders effektiv durch eine Tafel Schokolade, eine Tüte Chips oder ein Stück Nußtorte mit Sahne zu beheben. Wenn vulnerable Personen anhaltenden, schwer kontrollierbaren Belastungen ausgesetzt sind, ist die Gefahr besonders groß, daß die psychischen Effekte des Fastens von ihnen als eine Möglichkeit der Angstbewältigung entdeckt werden. Die bei längerandauernder Nahrungsrestriktion auftretende permanente Herabregulation der Serotonintransporter, die daraus resultierende Stimulation serotonerger Aktivität und ihre subjektiv erlebten psychischen Auswirkungen bieten so eine mögliche Erklärung für die Entstehung von Eßstörungen. Personen, die die anorektischen, stimmungsstabilisierenden Effekte des Fastens als besonders positiv empfinden, können so sehr leicht in einen Teufelskreis geraten, der nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Da die Herabregulation der Serotonintransporter durch Nahrungsrestriktion bei Jugendlichen leichter auslösbar ist als bei Älteren und da das über die Medien verbreitete Idealbild von "schönen = schlanken" Menschen besonders junge Frauen zum Fasten motiviert, ist die hohe Prävalenz von Eßstörungen in diesem Bevölkerungssegment wenig erstaunlich (1, 11, 14).
Die Suche nach einer wirksamen Therapie sowohl von magersüchtigen, kachektisch gewordenen Patienten wie auch von fett- oder kohlenhydratsüchtigen, adipös gewordenen Patienten stellt uns also wieder einmal vor das älteste und größte Problem aller Heilkunst; nämlich die Ursachen, nicht die Folgen von Fehlentwicklungen zu behandeln.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-477-479
[Heft 9]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http ://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Gerald Huether
Psychiatrische Klinik
Universität Göttingen
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
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